AOTDE Reisestipendium – Harborview Medical Center, Seattle, USA, Oktober-November 2022
Reisebericht von Dr. med. Darius Thiesen
Durch das AO Travelfellowship ergab sich für mich die einmalige Gelegenheit vier Wochen lang am Harborview Medical Center in Seattle, USA „cuttind edge“ Becken- und Acetabulumchirurgie zu erleben. Das Harborview Hospital ist eines der - wenn nicht sogar das - größte und etablierteste Traumazentrum in den Vereinigten Staaten. Es deckt den Nordwesten der USA ab, das sind fast vier ganze Bundesstaaten, einschließlich Alaska und ist damit das zuständige Level-1 Traumazentrum für etwa 40 Millionen Menschen. Für einen Beckenchirurgen gibt es keinen besseren Ort, um zu lernen, denn hier werden jedes Jahr mehr als 500 Becken und Acetabulumfrakturen operiert, das sind etwa zwei pro Tag! Das Trauma Team behandelt hauptsächlich schwere dislozierte Becken- und Acetabulumfrakturen bei jüngeren Patienten nach Hochrasanztrauma, zunehmend aber auch geriatrische Fälle.
Während meiner Zeit dort wurde mir immer das Gefühl gegeben, willkommen und Teil des Beckenteams zu sein, insbesondere durch meinen „Hosting Attending“ Conor Kleweno, der ein ebenso brillanter Chirurg wie Lehrer ist. Mit seiner unprätentiösen Art, zu erklären und zu lehren, nahm er mir die Angst, mich als „Observer“ nur schwer einfügen zu können. Er lud mich zum Abendessen ein, ermöglichte mir die Teilnahme an einem von der Industrie organisierten CatLab und gab mir viele Tipps, wie ich mich in der Smaragdstadt (das ist der Spitzname von Seattle) zurechtfinden konnte.
Mein Tagesablauf startete an vier von fünf Tagen im OP Saal, dem Becken-Saal, welcher eigens dafür eingerichtet ist und bezüglich Platz und Lagerung wenig Wünsche offen lässt. Zumeist konnte ich mit den Fellows oder Dr. Kleweno die Cases vorher besprechen und über den Zugang oder das Versorgungsprinzip diskutieren. Während der Operation wurde ebenfalls diskutiert und der Situs war größtenteils einsehbar oder wurde bei wichtigen Schritten demonstriert. Pro Tag konnte ich zumeist zwei Becken oder Acetabulumfrakturen sehen, aber auch komplexe Pilon- oder Unterschenkelfrakturen gehörten zum täglichen Portfolio. Am nicht OP-Tag, folgte ich Dr. Kleweno in der Outpatients Clinic und konnte Nachbehandlungskonzepte sowie die US-amerikanischen Patienten besser kennenlernen.
Mir war es jedoch freigestellt, auch an diesem Tag in den OP zu gehen, insbesondere bei spannenden Fällen, waren die anderen Attending Surgeons mehr als gewillt mit mir zu diskutieren und mich partizipieren zu lassen. Einmal pro Woche gab es great rounds und es wurden die Cases der letzten Woche besprochen, zum einen zur Qualitätssicherung, aber auch zu Lehrzwecken – die Residents stellten die Patienten vor und wurden auf konstruktive Art und Weise befragt, sodass beide Seiten lernen konnten.
Dr. Kleweno war jedoch nicht der Einzige, der mich unterstützt hat. Ich möchte auch Dr. Firoozabadi, Dr. Githens und vor allem den Fellows Alex und Dan sowie dem Rest des Beckenteams für ihre offene und hilfsbereite Art danken. Ein besonderer Dank geht auch an die AO, die als globaler Multiplikator von Wissen fungiert, indem sie angehenden Chirurg:innen solche Erfahrungen ermöglicht.
In meiner Bewerbung für das Stipendium schrieb ich den Satz, dass jede Erfahrung im Ausland neue Denkweisen fördern kann, indem sie "hausgemachte" Dogmen aufbricht. Und genau das ist passiert. Ich lernte andere Wege kennen, mit denselben chirurgischen Herausforderungen umzugehen, gewann neue Perspektiven auf Probleme, von denen ich zuvor nicht wusste, dass sie existierten, und lernte gleichzeitig viele großartige und gleichgesinnte Menschen kennen.
Ich denke jede Chirurgin und jeder Chirurg sollte progressiv und neugierig bleiben und das AO-Reisestipendium ist der perfekte Weg, dies zu verwirklichen.